Mittwoch, 18. September 2013

Die weinende Frau

Es ist irgendwann in der Nacht. Ich liege im Bett in der Wohnung, die sich in einer der Gassen im Städtchen auf Teneriffa befindet und schlafe. Langsam werde ich wach, denn ich höre das Weinen einer Frau. Es kommt immer näher. Die Frau läuft scheinbar unsere Straße entlang und nähert sich unserem Haus. Es ist ein hemmungsloses, verzweifeltes Weinen und Jammern und Wehklagen.

Genervt wache ich immer mehr auf und denke bei mir „Geh doch nach Hause, Frau.“ Sie stört mich mit ihrem Weinen mitten in der Nacht. Aber dann ändert sich etwas in mir. Mir kommt in den Sinn, dass dieser Frau irgendetwas für sie sehr Tragisches passiert sein muss. Vielleicht hat der Freund sie verlassen, hat er nur noch mit einer anderen getanzt auf dem Fest, von dem ich weiß, dass es heute Abend da unten auf dem Marktplatz stattgefunden hat. Vielleicht ist sie auch bestohlen worden oder jemand hat ihr irgendwie Gewalt angetan. Ich kenne das doch, Kummer, schmerzhafte Erfahrungen, Weltschmerz, der sich manchmal ganz ohne Grund einstellen kann.

Ich empfinde Mitgefühl mit dieser Frau, die sich mittlerweile offensichtlich vor unserem Haus niedergelassen hat, denn das Weinen und Wehklagen entfernt sich nicht, sondern bleibt konstant. Schließlich höre ich weitere Stimmen. Jemand ist bei ihr, spricht mit ihr, kümmert sich um sie, führt sie fort und das Weinen entfernt sich.

Mir wird bewusst, dass diese Frau mir einen Anteil von mir dargestellt hat, dass sie auch ein Teil von mir ist, diese weinende, klagende Frau, die enttäuscht ist, verletzt wurde, vielleicht irgendeine Erfahrung gemacht hat, deren Sinn sich nicht begreifen lässt. Ich hole diese Frau innerlich in mein Herz, nehme sie in den Arm, fühle mit ihr. So kann dieser alte Schmerz heilen. Durch ein Wegschicken ändert sich nichts, kann keine Heilung geschehen. Ich verstehe sie, weiß ja so gut weiß, wie sich das anfühlt.

Ich nehme dich in den Arm, weinende Frau, und auch mich selbst. Es ist gut jetzt. „Respira. Ya se pasa“, wie ich hier in Spanien hab sagen hören. „Atme. Es geht vorüber.“

Teneriffa, 17.9.2013

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